Christian Rittelmeyer: Digitale Bildung – ein Widerspruch

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Rezensentin:
Ramona Zacherl, FBZHL
Originalliteratur:
Christian Rittelmeyer: Digitale Bildung – ein Widerspruch: Erziehungswissenschaftliche Analysen der schulbezogenen Debatten. Pädagogik: Perspektiven und Theorien, Band 29. Oberhausen, ATHENA Verlag 2018, ISBN 978-3745510317, 184 Seiten, EUR 24,50.
Quelle der Rezension:
Wilbers, Karl (Hrsg.): Handbuch E-Learning. 82. Erg.-Lfg. August 2019 www.personalwirtschaft.de/elearning


2017 legte die Kultusministerkonferenz das Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ vor und forderte darin unter anderem, dass der Umgang mit der Digitalisierung im Schul- und Hochschulbereich einerseits dem Primat des Pädagogischen folgen und andererseits in pädagogische Konzepte eingegliedert sein soll, in denen das Lernen im Vordergrund steht. Aber „Was kann mit der Forderung nach einem Primat des Pädagogischen in der Digitalisierungsdebatte gemeint sein?“ Mit genau dieser Frage setzt sich der ehemalige Professor für Erziehungswissenschaft Christian Rittelmeyer in seiner hier vorgestellten Publikation detailliert und wissenschaftlich begründet auseinander.
Im ersten Hauptteil der Schrift gewährt der Verfasser Einblicke in geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden. Hierfür untersucht er von der Digitalwirtschaft herausgegebene (und zum Teil in Kooperation mit privaten Stiftungen entstandene) Empfehlungen und Broschüren, die, getarnt unter dem Deckmantel der Philanthropie, kaum mehr als Werbebotschaften erkennbar sind. Dabei zeigt er unter Einsatz einer Diskursanalyse eindrucksvoll, wie hartnäckig IT-Unternehmen durch den Einsatz spezifischer rhetorischer Strategien versuchen, das staatliche Bildungswesen im eigennützigen Sinne zu lenken und Entscheidungsträger zu manipulieren. Ergänzend dazu wird unter Verweis auf die Sprechakt-Theorie des Philosophen Jürgen Habermas veranschaulicht, wie diese als neutral vermarkteten Stellungnahmen von Samsung, Google und Co. umfassend gegen die sog. universalpragmatischen Bedingungen gelingender Kommunikation verstoßen. Im zweiten Hauptteil wirft Rittelmeyer die eingangs genannte Frage nach der Bedeutung des Primats der Pädagogik auf und schlägt die vier Grundprinzipien der pädagogischen Moderne als rationale Urteilsmaßstäbe vor, um das passende didaktische Setting für eine Lehr-Lern-Situation zu wählen. Nicht das technisch Machbare oder vermeintlich Trendige sollte von den Lehrenden bei der Auswahl der passenden Vermittlungsform berücksichtigt werden, sondern einzig und allein das didaktisch Sinnvolle. Ihn stört vor allem die weit verbreitete Fixierung auf die Digitalausstattung, die jegliche pädagogische Maximen aus dem Blick geraten lassen und damit auch die Aufmerksamkeit von Politik, Medien und Gesellschaft verlieren. Rittelmeyer greift insgesamt noch viele weitere interessante und brisante Themen auf, unter anderem die Glorifizierung der MINT-Fächer, die ungeklärte Wirksamkeit digitaler Lernformate oder den unterschätzten Wert der Allgemeinbildung. Das dritte und letzte Kapitel zum Thema Bildungsaspiration ist zwar noch eine nette Ergänzung mit Überlegungen zur wechselseitigen Verstärkung von künstlerischen Interessen und MINT-Fächern, die wirklich lesenswerten Zeilen sind jedoch eindeutig in den ersten beiden Kapiteln zu finden.
Eine Leseempfehlung kann für all jene ausgesprochen werden, die Interesse an den aktuellen Herausforderungen des Bildungssystems haben und zugleich dazu bereit sind, sich auf eine zwar kognitiv anspruchsvolle, aber dennoch spannende pädagogische Diskussion einzulassen. Das Besondere an Rittelmeyers Schrift ist seine fundierte Argumentation, die auf Bildungstheorien, ideologiekritischen Analysen und empirischen Forschungsergebnissen basiert. Seine Ausführungen beziehen sich zwar primär auf den schulischen Kontext, können aber an vielen Stellen ebenso gut auf den hochschulischen Kontext übertragen werden. Er verteufelt weder das Lernen mit digitalen Medien im Allgemeinen noch beschränkt er sich auf die Darstellung möglicher digitaler Horrorszenarien wie es viele andere Autorinnen und Autoren in den letzten Jahren getan haben. Anstatt den Weg der Polemik zu wählen, regt er seine Leserschaft zur kritischen Reflexion an – eine Fähigkeit, die in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten immer wichtiger und zugleich leider auch immer stärker vernachlässigt wird.