Jarett Kobek: Ich hasse dieses Internet
Rezensent:
Dirk Jahn, FBZHL
Originalliteratur:
Kobek, Jarett: ich hasse dieses internet. Ein nützlicher Roman. Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper. Frankfurt am Main (Verlag S. Fischer) 2016, ISBN 978-3103972603, 368 Seiten, EUR 20,00.
Quelle der Rezension:
Wilbers, Karl (Hrsg.): Handbuch E-Learning. 72. Erg.-Lfg. Februar 2018 www.personalwirtschaft.de/elearning
„Ich hasse dieses Internet.“ Diesen Satz hörte ich unlängst nur von Leuten, deren Router gefährlich rot blinkt, von Menschen, die ihre Passwörter regelmäßig vergessen oder von Personen, die sich einen bösen Computervirus beim Surfen eingefangen haben. Nicht zu vergessen bestimmte Landbewohner, die lange vor Bildschirmen verharren müssen, bevor sich endlich die Seite aufbaut. Alle anderen scheinen sonst ziemlich zufrieden mit diesem Internet zu sein, vorausgesetzt es funktioniert.
„Ich hasse dieses Internet“ – In dem gleichnamigen Roman von Jarett Kobek, der in der kalifornischen Technologiespezialisten-Szene gearbeitet hat, bekommt der Satz eine ganz andere, drastischere Bedeutung. Ich hasse dieses Internet ist ein Aufschrei gegen all die Irrationalitäten, Banalitäten, Absurditäten, Ideologien, Übergriffe, Bereicherungen, Abgründe und Diskriminierungen, die tagtäglich durch unsere Nutzungspraktiken digitaler Endgeräte gefördert werden und die vielen Nutzern längst nicht mehr bewusst sind (oder niemals bewusst waren).
Die spärliche Rahmenhandlung des gefeierten Erstlingswerks ist schnell erzählt. Eine Gruppe von Freunden im mittleren Erwachsenenalter, die meisten davon kreativ Tätige wie Künstler oder Schriftsteller, wird mit den Zumutungen und Chancen des Internets und den gesellschaftlichen Entwicklungen, die es begünstigt hat, konfrontiert. Hauptaustragungsort der Geschichten ist dabei San Francisco, Kalifornien, dessen Umwälzung durch die Technologiekonzerne nebenbei erzählt wird.
Da ist beispielsweise Adeline, Comiczeichnerin und eine Art Hauptprotagonistin des Buches, die in einem Vortrag an der Uni aus dem Bauch heraus die Popularität von Beyonce und Rihanna in Frage stellt. Das von Studierenden mitgeschnittene und ungefragt veröffentlichte Video führt zur Netz-Furore: Selbsternannte Feministinnen erklären Adeline online zum Feindbild und ein Shitstorm bricht über sie in sämtlichen sozialen Netzwerken herein. Täglich erhält sie Nachrichten voller Hass und Ignoranz. Ein anderes Beispiel ist Ellen, die in einer Kleinstadt lebt und sich einmal von ihrem lang verflossenen Freund unglücklich beim Liebesspiel ablichten ließ. Auch ihre Bilder landen Jahre später unfreiwillig im Netz, mit der Konsequenz, dass Ellen verzweifelt die Stadt verlassen muss und sich eine neue Identität zulegt.
Manche der vorgestellten Akteure scheitern durch das Internet, andere hingegen machen es sich zu Nutze und erlangen Ruhm. Sie werden zu „Influencern“, d.h. Personen mit hoher Bekanntheit in den sozialen Netzwerken. Und jedes Mal, wenn sich ein Shitstorm oder eine Fame-Welle digital entfesseln, verdienen die Sozialen Netzwerke kräftig dadurch Geld. Und immer, wenn sich Empörung und Euphorie zu tausend online verbreiten, geschieht das auf digitalen Endgeräten, die meist unter katastrophalen Bedingungen in Billiglohn-Ländern hergestellt und wieder entsorgt werden. Google, Twitter, Amazon, Apple, Steve Jobs, Mark Zuckerberg, Hipster, Online-Aktivisten, unkritische Konsumenten – sie alle und das ganze System werden von Kobek in den Geschichten angeprangert und für schuldig gesprochen: Gentrifizierung, Überwachung, Manipulation, Verblendung, Ausbeutung, Diskriminierung, das Blut und Leid, das unsichtbar an unseren digitalen Geräten klebt – Kobeks Anklageschrift geht aufs Ganze und dies in einem irrwitzigen, repetitiven, vom Shit Storm erfassten Sprach-Stil, der einige Bonmots garantiert. Auch vor E-Learning macht der Autor keinen Halt: „eine pädagogische Eintagsfliege von Leuten, die Lehrer und Schulbildung hassen“ (S. 338), von „schwachsinnigen“ und „unausgereiften Grundsätzen“ geprägt (S. 337).
Wer sachlich konstruktive Kritik sucht, der wird in dem vielschichtigen Buch nur an sehr wenigen Stellen fündig. Zudem bleibt der Hass auf „dieses Internet“ thematisch unvollständig, denn wichtige gesellschaftliche Herausforderungen, wie z. B. das Internet der Dinge, bleiben weitestgehend in der Erzählung außen vor. Dies alles muss ein Roman wie dieser aber auch nicht leisten, denn seine Funktion ist eine ganz andere. Die grotesk-unterhaltsame Brandschrift fordert den ausdauernden Leser dazu heraus, sich zu den radikalen Standpunkten zu positionieren. Darin liegt eine didaktische Stärke, die das Buch auch für Jugendliche, Studierende und für den Unterrichtseinsatz interessant macht. Ein nützlicher Roman!