Die Verbesserung der Motivation und Leistung von Erstsemester-Studierenden mit problembasierten Seminaren
Kurzinfos_ZiLL_40-2015_problembasiertes Lernen Erstsemester
AutorInnen: Jaqueline Murray, Alastair Summerlee, University of Guelph, Kanada
Aus der Reihe: Schriften zur Hochschuldidaktik. Beiträge und Empfehlungen des Fortbildungszentrums Hochschullehre der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.
Quellen
Murray, J., & Summerlee, A. (2007). The Impact of Problem-Based Learning in an Interdisciplinary First-Year Program on Student Learning Behaviour. Canadian Journal of Higher Education, 37(3), 87-107;
Murray, J., & Summerlee, A. (2010). The Impact of Enquiry-Based Learning on Academic Performance and Student Engagement. Canadian Journal of Higher Education, 40(2), 78-94.
Problembeschreibung / Zieldefinition
Um die Zufriedenheit, Motivation und Studienleistung von Erstsemester-Studierenden zu erhöhen, werden häufig Verbesserungen wie kleinere Gruppengrößen und mehr persönlicher Kontakt zwischen Studierenden und Lehrpersonen vorgeschlagen. Da dies jedoch oftmals an organisatorische und finanzielle Grenzen stößt, haben Summerlee und Murray (2007) eine Lehrmethode entwickelt, die den Anspruch hat, die Motivation und Leistung von Erstsemester-Studierenden ohne großen zusätzlichen Ressourcenaufwand zu verbessern. Bei dieser Methode steht weniger die Förderung des Erwerbs von fachlichen Kompetenzen im Mittelpunkt. Zentral ist vielmehr, dass die Erstsemester-Studierenden ihre Problemlösefähigkeit, ihr schlussfolgerndes und kritisches Denken, ihre Recherchekompetenzen und ihre Kommunikationsfähigkeit weiterentwickeln. Diese Methode wird von den Autoren auch als problembasiertes Lernen bezeichnet.
Herangehensweise / Lösungsansatz
In der von Summerlee und Murray (2007, 2010) präsentierten Form des problembasierten Lernens bearbeiteten die Studierenden konkrete Problemstellungen zu einem vorgegebenen Szenario (sog. problembasiertes Lernen). Dabei sollen sie selbstständig Informationen recherchieren und auf die vorgegebenen Problemstellungen anwenden. Zum Konzept in seiner von den Autoren vorgestellten Form gehört darüber hinaus, dass die Arbeitsgruppen fächerübergreifend zusammengestellt sind.
Am Anfang des Seminars werden die Studierenden in Kleingruppen eingeteilt, die nicht mehr als acht Personen umfassen sollten, und mit konkreten Problemstellungen konfrontiert. Als Beispiel für die Methode stellen die Autoren ein von ihnen erstelltes Szenario vor, bei dem die Studierenden sich in die Rolle eines Reporters versetzen und einen Bericht über ein Artenschutzprogramm für chinesische Tiger schreiben sollen. Das Programm soll der Rettung dieser seltenen Art dienen, ist jedoch umstritten: Die Studierenden erhalten sowohl Informationen über das Artenschutzprojekt, als auch einen kritischen Bericht der Tierschutzorganisation PETA zum Projekt, in dem etwa die unnatürliche Aufzucht der Tiger oder die Verwendung von Farmland als Reservat kritisiert werden. Ausgehend von diesen Informationen sollen die Studierenden folgende Fragen begründet anhand des vorgeschlagenen Ablaufs in Abbildung 1 beantworten:
- Wer würde sich als Interviewpartner für den Bericht eignen?
- Welche ethischen Probleme wirft dieser Fall auf?
Für ein problembasiertes Seminar sollten grundsätzlich offene Problemstellungen gewählt werden. Das sind solche, für die es keine definitiv richtigen oder falschen Lösungen gibt. Entscheidend ist demnach nicht, dass die Studierenden das Problem „richtig“ lösen, sondern dass sie lernen, wesentliche Aspekte des Problems zu erfassen, sich mit einem Problem angemessen auseinanderzusetzen und relevante Informationen mit effizienten Strategien zu recherchieren (im vorliegenden Beispiel beispielsweise Informationen dazu, was die Kennzeichen einer artgerechten Aufzucht von Tigern sind), und dass sie lernen, die recherchierten Informationen auf die Problemstellung anzuwenden. Wichtiger als der Erwerb von Wissen zur Lösung des exemplarisch gewählten Problems ist der Erwerb von Kompetenzen, die dazu beitragen, verschiedene Problemstellungen zielgerichtet zu bearbeiten. Der Ablauf der Methode ist in Abbildung 1 dargestellt:
Für das Seminar wird eine mehrere Textseiten umfassende Darstellung des Szenarios und verschiedener Problemstellungen erstellt. Diese verschiedenen Problemstellungen werden von den Studierenden schrittweise bearbeitet. Am Anfang der Bearbeitung befassen sich die Studierenden mit der ersten Problemstellung. Im vorliegenden Beispiel erhielten sie zusätzlich zum Arbeitsauftrag einen Bericht von PETA, basierend auf welchem sich die Studierenden in den Gruppen folgende Fragen stellen sollen:
- Welche Informationen sind gegeben?
(z. B. der Artbestand chinesischer Tiger oder die Trägerschaft des Artenschutzprogramms) - Welche Informationen fehlen uns noch zur Bearbeitung des Problems? (z. B. Was ist PETA? Was versteht man unter „ethischer Behandlung von Tieren“?)
- Auf welche Weise finden wir die benötigten Informationen?
Anhand dieser Fragen teilen die Studierenden die Problemstellung in kleinere Teilprobleme auf, welche gegliedert und gegebenenfalls zusammengefasst werden, um die Problemstellung überschaubarer zu machen. Anhand dieser Teilprobleme wird die Recherchearbeit auf die einzelnen Gruppenmitglieder aufgeteilt, die sich in Eigenregie Informationen zu ihrem Thema erarbeiten sollen.
In der nächsten Sitzung, die idealerweise zwei bis drei Tage später folgen sollte, präsentieren die Studierenden ihre Recherche-Ergebnisse innerhalb ihrer Gruppe: Sie fassen die recherchierten Ergebnisse aus Büchern oder Artikeln in einem selbst erstellten Handout zusammen und präsentieren dies in einem Kurzvortrag. Die von den Gruppenmitgliedern selbst recherchierten Informationen werden dann im Rahmen einer Diskussion innerhalb der Gruppe auf die konkrete Problemstellung angewandt. Wurde die Problemstellung befriedigend bearbeitet, kann die Gruppe zur nächsten Problemstellung übergehen. Falls die Problemstellung noch nicht befriedigend bearbeitet wurde, wiederholt die Gruppe den Problemlöse-Zyklus.
Mit Ausnahme der konstituierenden Sitzung findet am Ende jeder Sitzung eine Phase des Feedbacks innerhalb der Gruppen statt. In dieser Phase geben sich die Studierenden gegenseitig Feedback: Sie erhalten ein genaues und ausführliches Feedback von jedem ihrer Gruppenmitglieder zu ihrem Arbeitsverhalten. Ebenso sollen alle Studierenden über ihre eigene Leistung und ihren Beitrag zur Gruppenarbeit Rechenschaft ablegen.
Bei der vorgestellten Methode haben die Studierenden weitestgehend freie Hand, was ihre Arbeitsteilung, ihre Recherche, die Anwendung der recherchierten Informationen auf die Problemstellung und die Gestaltung des Feedback-Prozesses innerhalb der Gruppe angeht. Sie erhalten zudem Unterstützung von TutorInnen, die den einzelnen Gruppen zugeteilt sind und die sich zunächst wie die anderen Mitglieder an der Diskussion der Problemstellung, der Identifikation von Teilproblemen und der Feedbackphase beteiligen. Die TutorInnen sollen den Problemlöseprozess anregen, sich jedoch zunehmend um so mehr aus den Gruppendiskussionen zurückziehen, je stärker die Studierenden die Prinzipien der problembasierten Methode verinnerlicht haben und diese selbst anwenden können. Weiterhin ist es die Aufgabe der TutorInnen dafür zu sorgen, dass am Ende jeder Sitzung genug Zeit für Feedback in der Gruppe bleibt, und sie sollen den Studierenden als Vorbild für das Geben von konstruktivem Feedback dienen. Sollte die Gruppe bereits zur nächsten Problemstellung übergehen wollen, obwohl noch Fragen offen geblieben sind, wesentliche Informationen nicht aufgefunden wurden oder das Problem noch nicht gelöst wurde, sollten die TutorInnen die Gruppe darauf hinweisen und dazu anhalten, zunächst diese Informationen zu recherchieren, die Fragen zu klären und das Problem weiter zu bearbeiten.
Aufwand
Die Implementation von problembasierten Seminaren für Erstsemester-Studierende erfordert für die Lehrenden einen hohen zeitlichen Aufwand, da die Szenarien mit den Problemstellungen erstellt und für die Studierenden aufbereitet werden müssen. Sind diese Szenarien jedoch erst einmal erstellt, können sie wiederholt eingesetzt werden. Der Aufwand lohnt sich also insbesondere dann, wenn der langfristige Einsatz eines problembasierten Seminars geplant ist. Auch wird nur der langfristige Einsatz eines solchen Seminars dem Anspruch gerecht, mit geringen finanziellen Mitteln die Zufriedenheit der Studierenden zu erhöhen.
Zum Aufwand für die Erstellung der Problemszenarien kommt hinzu, dass die TutorInnen eingarbeitet werden müssen, damit sie die Erstsemester-Studierenden gut anleiten können. Hier bietet es sich an, insbesondere auf weiter fortgeschrittene Studierende zurückzugreifen, die bereits über die entsprechenden Problemlösekompetenzen, kritisches Denken und Informationskompetenzen verfügen.
Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass ihre problembasierte Methode mit einem höheren Aufwand für die Studierenden verbunden ist als traditionelle Lehrformen. Deshalb schlagen sie vor, für problembasierte Seminare mehr Leistungspunkte zu vergeben.
Art der Evaluation, Erfolgsfaktoren und Resultate
Die Wirkungen des problembasierten Ansatzes wurden sowohl mit qualitativen als auch quantitativen Methoden evaluiert. Dabei wurden die Studierenden, die das problembasierte Seminar durchlaufen hatten, mit zwei Kontrollgruppen verglichen: eine Gruppe, die ein Seminar mit Kleingruppenarbeit, aber ohne dezidierte Problemorientierung absolviert hatte, und eine Gruppe, welche an Lehrveranstaltungen ohne Gruppenarbeit teilgenommen hatte.
Die qualitativen Befragungen zum subjektiven Erleben der Studierenden ergaben folgende Ergebnisse: Studierende des problembasierten Seminars gaben häufiger als die Studierenden aus den Kontrollgruppen an, dass sich ihre Problemlösefähigkeit und ihr schlussfolgerndes Denken verbessert hatten, und dass sie diese Fähigkeiten auch langfristig in anderen Bereichen anwenden konnten. Befragungen der teilnehmenden Studierenden ergaben ebenfalls einen höheren Grad des Kontakts zu Lehrenden, gesteigerte Kritikfähigkeit, bessere Schreibfähigkeit und eine gezieltere Auswahl an wissenschaftlicher Literatur im Vergleich zu den Studierenden der Kontrollgruppen.
Im Zuge der quantitativen Evaluation untersuchten die Autoren darüber hinaus Effekte des Programms auf die in Form der Noten erhobenen Studienleistungen als objektives Kriterium. Sie verglichen die Studienleistungen von 100 Studierenden, welche in ihrem ersten Hochschulsemester ein problembasiertes Seminar besucht hatten, zum einen mit den Leistungen der Studierenden im weiteren Verlauf des Studiums, und zum anderen mit den Leistungen der Studierenden der Kontrollgruppen, welche nicht an einem problembasierten Seminar teilgenommen hatten. Es zeigte sich, dass Studierende, die an einem problembasierten Seminar teilgenommen hatten, in den folgenden Semestern bis zum Ende des Studiums im Schnitt signifikant bessere Studienleistungen erzielten als Studierende der Kontrollgruppen. Die größte Notenverbesserung erzielten dabei diejenigen Studierenden, die am Anfang ihres Studiums die schlechtesten Leistungen erbracht hatten. Dies lässt den Schluss zu, dass problembasierte Seminare nicht nur, aber vor allem leistungsschwächeren Studierenden zugute kommen.
Empfehlungen
Murray und Summerlees Studien (2007, 2010) deuten darauf hin, dass es sich bei problembasierten Seminaren für StudienanfängerInnen um eine effektive hochschuldidaktische Methode handelt. Angesichts der zwar positiven, aber noch nicht sehr umfangreichen Evaluationsergebnisse wären weitere Evaluationsstudien sicherlich wünschenswert. Dennoch handelt es sich um ein vielversprechendes Konzept. Von der von den Autoren vorgeschlagenen Implementation der Methode in fächerübergreifenden Seminaren raten wir jedoch ab. Diese würde den Aufwand weiter erhöhen, da sie die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden aus verschiedenen Studiengängen erforderlich macht. Zudem ginge damit die Seminarzeit auf Kosten des Erwerbs von für das Studium unmittelbar relevanten Fachinhalten verloren und vor allem würde der Transfer der erworbenen Kompetenzen auf Probleme im eigenen Fachgebiet erschwert. Deshalb schlagen wir vor, mit problemorientierten Aufgabenstellungen innerhalb von Studiengängen zu arbeiten.
Wichtig ist, dass die TutorInnen dazu geschult werden, nicht in eine Expertenrolle zu fallen, sondern die Diskussion der Studierenden mit offenen Fragen anzuregen. Geben die TutorInnen selbst zu viele Informationen, besteht die Gefahr, dass die Studierenden sich auf sie als Wissensvermittler verlassen, was den problembasierten Ansatz untergraben würde.
Verallgemeinerbarkeit
Im hier dargestellten Beispiel wurde die Methode im Rahmen eines Seminars angeboten, dass sich an Studierende der beiden Fächer Geschichte und Biomedizin richtete. Daraus wird unmittelbar deutlich, dass die hier vorgestellte Methode nicht an ein bestimmtes Fach gebunden ist, sondern auf andere Fachbereiche übertragen werden kann.