Individuelle Bewertungen in Gruppenarbeiten: gegenseitige Rückmeldungen unter Studierenden mit Reflexionsbögen
Kurzinfos_ZiLL_35-2015_Bewertungsleitfaden
Autor: Martin R. Fellenz, University of Dublin, Trinity College
Aus der Reihe: Schriften zur Hochschuldidaktik. Beiträge und Empfehlungen des Fortbildungszentrums Hochschullehre der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.
Quelle
Fellenz, M. (2006). Toward fairness in assessing student groupwork. A protocol for peer evaluation of individual contributions. Journal of Management of education, 30 (4), 570-591.
Problembeschreibung / Zieldefinition
Obwohl Gruppenarbeiten in der Hochschullehre gut geeignet sind, um Studierende zu aktivieren, scheuen Lehrende oft den Einsatz dieser Methode. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es nicht immer leicht ist, die individuellen Beiträge jedes Studierenden zu einer Gruppenarbeit angemessen zu bewerten. Der hier vorgestellte Reflexionsbogen zur gegenseitigen Bewertung von Studierenden in Gruppenarbeiten (im Original: Groupwork Peer-Evaluation Protocol – GPEP) wurde mit dem Ziel entwickelt, dieses Problem zu lösen. Zugleich bietet er auch unabhängig von einer Verwendung im Rahmen der Benotung eine Möglichkeit, den Studierenden Rückmeldungen zu ihrem Arbeitsverhalten und ihrer Leistung in der Gruppenarbeit zu geben.
Der hier vorgestellte Reflexionsbogen setzt sich aus einem Feedback-Fragebogen und einem Bewertungsbogen zusammen. Er begleitet die gesamte Gruppenarbeitsphase. Auf Basis des Reflexionsbogens erhalten die Studierenden von ihren Gruppenmitgliedern Rückmeldungen zu ihrem Engagement in der Gruppenarbeit und zur Qualität ihrer Beiträge. Fellenz (2006) sieht in der Methode außerdem eine Möglichkeit, individuell angepasste Noten im Rahmen von Gruppenarbeiten zu vergeben. Die Grundidee dabei ist, dass zunächst die Gruppenleistung als Ganzes bewertet wird, und diese Bewertung dann individuell angepasst wird, indem auf die gegenseitigen Bewertungen, welche die Studierenden für ihre jeweiligen Gruppenmitglieder im Bewertungsbogen abgeben, zurückgegriffen wird.
Herangehensweise / Lösungsansatz
Der Reflexionsbogen zur individuellen Bewertung von Gruppenleistungen (siehe Abbildung 1) besteht, wie bereits erläutert, aus zwei Teilen, dem Feedback-Fragebogen und dem Bewertungsbogen:
Den ersten Teil des Reflexionsbogens bildet ein Feedback-Fragebogen zum Verhalten aller Gruppenmitglieder. Dort geben die Gruppenmitglieder jeweils sowohl für ihr eigenes Verhalten als auch das ihrer KommilitonInnen in der Gruppe die Häufigkeit von Verhaltensweisen an, die zum Gelingen der Gruppenarbeit beitragen. Bewertet werden Verhaltensweisen wie „brachte konstruktive Kritik ein“, „ist respektvoll mit den anderen umgegangen“ oder „hat sich an den Diskussionen beteiligt“ entsprechend der aufgetretenen Häufigkeit (nie, selten, meistens, immer).
Der zweite Teil des Reflexionsbogens, der Bewertungsbogen, baut auf dem Feedback-Fragebogen auf. Die Studierenden drücken die Arbeitsleistung jedes Gruppenmitglieds (sich selbst ausgeschlossen) in einem Rangplatz und in einer Prozentzahl aus und arbeiten dazu eine schriftliche Begründung aus. Die Prozentangabe kann in die Benotung der einzelnen Gruppenmitglieder eingehen, worüber die Studierenden im Rahmen der Einführung der Methode auch informiert werden. Es liegt allerdings im Ermessen der Lehrperson, welchen Anteil an der Gesamtnote die gegenseitige Bewertung des Arbeitsverhaltens der Studierenden hat. Die schriftliche Begründung der anonymen Bewertung der KommilitonInnen im Bewertungsbogen dient den Studierenden als Rückmeldung auf ihr Arbeitsverhalten. Diese Bewertungstexte werden jedem Studierenden von der Lehrperson ausgehändigt. So wissen alle Studierenden, welchen Eindruck ihr Verhalten bei den KommilitonInnen innerhalb der Gruppe hinterlässt und wie sie ihr Engagement entsprechend verändern können.
Abbildung 1: Auszug aus dem Reflexionsbogen (Der vollständige Reflexionsbogen sowie die Formeln zur Berechnung der Noten sind in der Originalarbeit einsehbar. vgl. Fellenz, 2006, Appendix A, S. 586-588)
Damit die Lehrperson einen Einblick in die Gruppenprozesse erhält, fertigen die Studierenden begleitend zum Reflexionsbogen einen Text an (ca. 1 Seite DIN A4), auf dem sie den Fortschritt innerhalb der Gruppe dokumentieren und reflektieren. Durch diese Gruppenarbeitsdokumentation hat die Lehrperson die Möglichkeit, einen eventuellen Missbrauch der Reflexionsbögen für das Mobbing einzelner Studierender zu erkennen und ihm entgegenzuwirken.
Der Reflexionsbogen wird von den Studierenden nicht nur am Ende der mehrwöchigen Gruppenarbeitsphase ausgefüllt, sondern zusätzlich auch nach der Hälfte der Gruppenarbeitsphase. Durch den semesterbegleitenden („formativen“) Einsatz ist diese Methode besonders gewinnbringend für die Studierenden: Sie haben so die Gelegenheit, ihren Beitrag zum Gruppenergebnis aufgrund der erhaltenen Rückmeldungen zu optimieren.
Vorgehen beim Einsatz des Reflexionsbogens
Der Reflexionsbogen ist auf den Einsatz in selbst zusammengestellten Gruppen zwischen vier und sechs Mitgliedern ausgerichtet. Für seinen Einsatz ist es wichtig, die Studierenden ausführlich über das Gesamtkonzept zu informieren. Erste Informationen sollten im Idealfall schon in der Veranstaltungsbeschreibung erfolgen und in den ersten Sitzungen vertieft werden (siehe Abbildung 2). Die Möglichkeit zur Diskussion über die Art und Weise der Durchführung und die Gelegenheit zu kleinen Änderungen nach Wünschen der Studierenden (beispielsweise zu den Kriterien im Feedback-Fragebogen) haben sich als sehr positiv auf die Akzeptanz und das Engagement der Studierenden ausgewirkt.
Abbildung 2: Idealtypisches Vorgehen beim Einsatz des Reflexionsbogens
Die Beschäftigung mit den ausgefüllten Reflexionsbögen sowie den Gruppenarbeitsdokumentationen ist gerade zur „Halbzeit“ der Gruppenphase wichtig, da sich so Situationen erkennen und entschärfen lassen, die den erfolgreichen Einsatz behindern können. Dies kann beispielsweise eine starke Bevorzugung oder Diskriminierung einzelner Gruppenmitglieder oder Absprachen unter den Studierenden betreffen. Ausgeschlossen werden können solche Probleme nicht, aber bei eindeutigen Fällen kann die Lehrperson die Situation im Gespräch klären.
Aufwand
Es ist notwendig, ausreichend Zeit für die Einführung dieser Methode in der Lehrveranstaltung einzuplanen. Dies kann in der ersten Veranstaltungssitzung erfolgen. Außerdem müssen die ausgefüllten Reflexionsbögen und Projektdokumentationen der Studierenden zweimal während des Semesters gelesen und die Bewertungstexte an die Studierenden weitergegeben werden.
Während der Gruppenarbeitsphase ist es wichtig, darauf zu achten, dass den Studierenden die Regeln und der vorgesehene Ablauf gegenwärtig sind. Auch sollte die Lehrperson genügend Zeit dafür einplanen, um bei Bedarf für Diskussionen zur Verfügung zu stehen und um auf kritische Anmerkungen von den Studierenden reagieren zu können.
Art der Evaluation, Erfolgsfaktoren und Resultate
Die Zufriedenheit der Studierenden mit dem hier vorgestellten Reflexionsbogen wurde in einer Evaluation überprüft. Die deutliche Mehrheit der 87 an der Befragung teilnehmenden Studierenden im Studiengang Betriebswirtschaftslehre der Universität Dublin bewertete sowohl das Verfahren positiv als auch die resultierenden Abschlussnoten als fair. In zusätzlichen Feedbackinterviews äußerte eine große Mehrheit der Studierenden den Wunsch, den Reflexionsbogen in weiteren Veranstaltungen einzusetzen. Besonders positiv beurteilt wurden die Berücksichtigung der individuellen Beiträge und die Möglichkeit, direktes Feedback von den Kommilitonen zu bekommen. Ebenfalls positiv gesehen wurde die Möglichkeit, wenig engagierte Kommilitoninnen mit ihrem Verhalten zu konfrontieren. Es gab jedoch auch negative Rückmeldungen: Insbesondere zu Semesterbeginn haben es manche Studierende als problematisch erachtet, dass ihre Benotung auch von der Bewertung durch KommilitonInnen abhängt. Im Verlauf des Semesters hat sich dies jedoch bei den meisten Studierenden zu einer positiven Sichtweise gewandelt. Fellenz (2006) zieht daher insgesamt eine positive Bilanz für die Anwendbarkeit der von ihm entwickelten Methode.
Empfehlungen
Wir empfehlen die Methode aufgrund der damit einhergehenden möglichen Nachteile nicht uneingeschränkt. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die vorgestellte Methode hilfreiche Elemente aufweist, die sich in Veranstaltungen mit Gruppenarbeiten mit Gewinn integrieren lassen. Sinnvoll erscheint uns vor allem ein Einsatz des hier vorgestellten Reflexionsbogens für ein Zwischenfeedback der Studierenden untereinander zu ihrem Arbeitsverhalten in den Gruppenarbeiten. Dies ist eine wertvolle Quelle für die Studierenden, von der ausgehend sie ihr eigenes Arbeitsverhalten reflektieren und ggf. ändern können.
Wir empfehlen, die vergleichende Bewertung der Studierenden im Bewertungsbogen vor allem als Rückmeldung ohne Einfluss auf die Note zu nutzen. Hier ist es zudem im Sinne einer kriteriumsorientierten Bewertung sinnvoll, gleiche Rangplätze zuzulassen, da es gut sein kann, dass zwei Studierende die Kriterien im Feedback-Fragebogen gleich gut erfüllen. Wir empfehlen außerdem, dass sich die Studierenden nach jeder Sitzung kurz Stichpunkte zu ihrem eigenen Arbeitsverhalten und dem Arbeitsverhalten ihrer KommilitonInnen machen, da ansonsten nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich die Studierenden über mehrere Wochen hinweg verzerrungsfrei an das Arbeitsverhalten ihrer KommilitonInnen erinnern.
Die hier vorgestellte Methode dient dazu, individuell erbrachte Anteile an gemeinsamen Gruppenleistungen nachträglich zuzuordnen. Für den von uns empfohlenen formativen Einsatz in der Semestermitte ist dies sicherlich eine sinnvolle Methode. Für die Bewertung von Studierendenleistungen im Rahmen von Modulprüfungen erscheint es uns jedoch sinnvoller, Gruppenarbeiten so in Arbeitspakete aufzuteilen, dass unmittelbar eine Bewertung individueller Leistungen möglich wird (vgl. Kurzinformation 30.2015 zu Projektkursen).
Verallgemeinerbarkeit
Der Reflexionsbogen kann in allen Veranstaltungsformaten eingesetzt werden, in denen die Studierenden in Gruppen zusammenarbeiten. Für Veranstaltungen mit mehr als 50 Studierenden ist der Einsatz des Reflexionsbogens nicht sinnvoll, da der Aufwand bei der individuellen Bewertung der Leistungen der Studierenden groß wäre und es nur schwierig sichergestellt werden kann, dass keine Studierenden benachteiligt werden.