Gemeinschaftlich Beurteilen: Eine Methode zur Förderung der Selbstreflexion Studierender
Kurzinfos_ZiLL_32-2015_Summative Co-assessment
Aus der Reihe: Schriften zur Hochschuldidaktik. Beiträge und Empfehlungen des Fortbildungszentrums Hochschullehre der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.
Autorin: Susan J. Deeley, University of Glasgow, UK
Quelle
Deeley, S. (2014). Summative co-assessment: A deep learning approach to enhancing employability skills and attributes. Active Learning in Higher Education, 15(1), 39-51.
Problembeschreibung / Zieldefinition
Bei der Gestaltung der Studienangebote ist von zunehmender Bedeutung, dass die Studierenden beschäftigungsrelevante Kompetenzen erwerben können (in der englischsprachigen Literatur „employability skills“). Dabei sind nicht nur fachbezogene, sondern auch überfachliche Kompetenzen ein wichtiger Bestandteil. Von den überfachlichen Kompetenzen kommt der Selbstreflexion im Allgemeinen und der Selbsteinschätzung der eigenen Leistung im Besonderen eine wichtige Rolle zu, da eine angemessene Selbsteinschätzung für den Kompetenzausbau im Sinne des lebenslangen Lernens entscheidend ist.
Um eine angemessene Selbsteinschätzung von Studierenden zu unterstützen und die Selbstreflexion zu fördern, bietet sich das sogenannte „gemeinschaftliche Beurteilen“ an (in der englischsprachigen Literatur „co-assessment“). Wie diese Methode in der Hochschullehre eingesetzt werden kann, wird im Folgenden dargestellt.
Herangehensweise / Lösungsansatz
Die Methode des gemeinschaftlichen Beurteilens ist eine Kombination aus Selbstbeurteilung (in der englischsprachigen Literatur „self-assessment“) und der Beurteilung durch die Lehrperson. Ziel dabei ist, dass der/die Studierende und die Lehrperson im Rahmen des Austauschs von Argumenten Konsens über eine angemessene Note für eine zu bewertende Aufgabe erzielen. Der Ablauf des gemeinschaftlichen Beurteilens gliedert sich in die drei Schritte Einführung in die Methode, Zwischenbewertung und gemeinschaftliche Beurteilung am Semesterende (vgl. Abbildung 1).
Einführung in das gemeinschaftliche Beurteilen
Am Anfang der Lehrveranstaltungsreihe werden die Studierenden in das gemeinschaftliche Beurteilen als Art der Leistungsbeurteilung eingeführt. Das ist besonders wichtig, falls die Studierenden diese Methode noch nicht kennen. Dabei werden die Bewertungskriterien für die zu bewertende Leistung (im Beispiel galt es, einen Vortrag zu bewerten) festgelegt. Die Lehrperson kann die Kriterien vorgeben, was sich vor allem anbietet, wenn die Studierenden noch wenig Erfahrung mit Selbstbeurteilung und gemeinschaftlichem Beurteilen haben. Es ist aber auch möglich, dass die Lehrperson die Kriterien im Vorfeld gemeinsam mit den Studierenden erarbeitet. Im Beispiel galt es, sowohl Vortragsinhalt als auch Vortragsweise zu bewerten. In Bezug auf den Inhalt wurden unter anderem der Informationsgehalt, die Verständlichkeit der dargebotenen Informationen und die Qualität der kritischen Reflexion bewertet. Mit kritischer Reflexion ist gemeint, inwiefern sichtbar wird, dass sich die Studierenden kritisch mit dem Inhalt auseinandergesetzt haben, wie ihnen beispielsweise die Inhalte für Ihre spätere Berufstätigkeit weiterhelfen oder was sie selbst bei der Vorbereitung des Vortrags gelernt haben. In Bezug auf die Vortragsweise wurden das Tempo, die Flüssigkeit, die Klarheit des Vortrags und die Gestaltung der Diskussion mit dem Publikum bewertet.
Wenn die Kriterien zur Leistungsbeurteilung geklärt sind, müssen zu Beginn noch die Regeln festgesetzt werden, nach denen die Einzelbewertungen zu einer Note integriert werden. Beispielsweise kann festgelegt werden, dass die Lehrperson immer dann in letzter Instanz über die Note entscheidet, wenn kein Konsens erzielt werden kann. Erläuterungen zum Ablauf des gemeinschaftlichen Beurteilungsprozesses, zu den Bewertungskriterien und zu den festgelegten Regeln sollten auch schriftlich an die Studierenden ausgegeben werden.
Zwischenbewertung
Im Lauf der Lehrveranstaltung bekommen die Studierenden die Gelegenheit, einmal einen Probevortrag zu halten und diesen gemeinschaftlich mit der Lehrperson anhand der vereinbarten Kriterien zu beurteilen. Diese Zwischenbewertung dient dazu, dass die Studierenden die Methode des gemeinschaftlichen Beurteilens praktisch kennenlernen und Feedback in Bezug auf die Angemessenheit ihrer Selbsteinschätzung bekommen.
Gemeinschaftliche Beurteilung am Semesterende
Am Ende der Lehrveranstaltungsreihe halten die Studierenden einen Vortrag (zu einem anderen Thema als im Probevortrag), der gemeinschaftlich mit der Lehrperson beurteilt wird.
Das dargestellte Konzept steht und fällt damit, dass der gemeinschaftliche Beurteilungsprozess zu einer sinnvollen Note führt. Dies soll durch folgenden Ablauf sichergestellt werden: Die Lehrperson und der/die Studierende vergeben jeweils eine vorläufige Note für den Inhalt des Vortrags und die Vortragsweise. Zusätzlich wird jeweils von dem/der Studierenden und der Lehrperson ein schriftlicher Kommentar erstellt (englisch „reflective writing“), der die Notengebung begründet und Entwicklungspotenzial aufzeigt. Auf Basis dieser Kommentare und der vorläufig vergebenen Noten wird dann im Zweiergespräch zwischen dem/der Studierenden und der Lehrperson der Vortrag diskutiert und die endgültige Note gefunden. Die Note aus der gemeinschaftlichen Beurteilung machte im vorliegenden Beispiel nur einen Teil der Gesamtnote des Seminars aus (hier: 10 %).
Aufwand
Der Aufwand für die Lehrperson besteht vor allem darin, mit den Studierenden die Gespräche zu führen, aus denen letztlich die Noten resultieren. Dieser Prozess kann jedoch optimiert werden, indem die Kriterien für die Notenvergabe zu Beginn der Lehrveranstaltung mit den Studierenden ausführlich besprochen werden. Auch ist Zeitaufwand für den reflexiven schriftlichen Kommentar einzuplanen. In der Lehrveranstaltung selbst müssen Zeiträume eingeplant werden, um die Methode einzuführen und diese bei den Probevorträgen und der Zwischenbewertung anzuwenden.
Art der Evaluation, Erfolgsfaktoren und Resultate
Es liegen bislang Befunde von Interviews und einer Gruppendiskussion vor, die mit Teilnehmenden aus dem genannten Kurs geführt wurden. In dem untersuchten Beispiel wurde nach dem Prozess des gemeinschaftlichen Beurteilens ein ausführliches Interview mit jedem der teilnehmenden Studierenden geführt. Darin wurde nach der Sichtweise der Studierenden auf das gemeinschaftliche Beurteilen gefragt. Anschließend wurden in einer Gruppendiskussion mit allen Studierenden die Interpretationen der Interviewdaten geprüft und falls nötig korrigiert.
Sich selbst einzuschätzen wurde von allen Studierenden zunächst als schwierig und herausfordernd empfunden. In der semesterbegleitenden gemeinschaftlichen Beurteilung (Zwischenbewertung) unterschätzen die meisten Studierenden ihre Leistung im Vergleich mit der Leistungseinschätzung durch die Lehrperson. In der gemeinschaftlichen Beurteilung am Ende des Semesters fühlten sich die Studierenden bei ihrer Selbsteinschätzung sicherer, was sich auch in den selbsteingeschätzten Noten zeigte, die nun generell besser waren als noch in der Zwischenbewertung und stärker mit denen der Lehrperson übereinstimmten.
Es zeigte sich, dass gemeinschaftliches Beurteilen von den Studierenden als sehr hilfreich erlebt wurde, da es dazu beiträgt, die Selbsteinschätzungen der Studierenden entweder zu bestätigen oder um die Einschätzung der Lehrperson zu erweitern. Außerdem vertiefte die persönliche Diskussion des Feedbacks mit der Lehrperson zum Vortragsinhalt und zur Vortragsweise das Verständnis für die Notengebung. Alle Studierenden berichteten, dass das gemeinschaftliche Beurteilen ihre Selbsteinschätzung verbessert habe.
Insgesamt sprechen die qualitativen Rückmeldungen der Studierenden dafür, dass gemeinschaftliches Beurteilen die Selbsteinschätzung der eigenen akademischen Leistung erleichtert und dazu beiträgt, dass die Studierenden ein realistischeres Bild ihrer Kompetenz im Halten von Vorträgen erhalten. Lernen Studierende, ihre eigene Leistung realistisch einzuschätzen, ist dies langfristig von Vorteil für sie, da diese Kompetenz förderlich für die berufliche Weiterentwicklung im Sinne des lebenslangen Lernens ist.
Auch die Lehrperson profitiert von dieser Methode, denn sie erfährt, in welchen Bereichen sich die Studierenden über- oder unterschätzen und sie kann ihre Einschätzung anhand der Selbsteinschätzung der Studierenden nochmals überprüfen.
Empfehlungen
Ein wichtiger Aspekt bei der gemeinschaftlichen Beurteilung ist zu vermeiden, dass eine Manipulation der Lehrperson durch die Studierenden bei der Notenaushandlung stattfindet. Diese Gefahr kann durch das Festlegen konkreter Kriterien bei der Notenvergabe durch die Lehrperson oder gemeinsam durch die Studierenden und die Lehrperson minimiert werden.
Wie in der Evaluation der Methode des gemeinschaftlichen Beurteilens deutlich wurde, ist die Selbstbeurteilung vor allem für StudienanfängerInnen eine Herausforderung. Deshalb ist es wichtig, den Studierenden während des Semesters die Möglichkeiten zur Selbsteinschätzung bei der Zwischenbewertung zu bieten und sie so gezielt zu trainieren. Zudem erfordert diese Methode eine vertrauensvolle Lernumgebung sowie gegenseitiges Vertrauen und Respekt zwischen den Studierenden und der Lehrperson.
Verallgemeinerbarkeit
Die Methode des gemeinschaftlichen Beurteilens wurde an der University of Glasgow in einem optional wählbaren Leistungskurs (Seminar für fortgeschrittene Studierende) des Fachbereichs Staatswissenschaften eingesetzt und überprüft. Die Methode lässt sich relativ leicht auf die meisten anderen Studienfächer übertragen. Zudem kann sie auch in anderen Lehrveranstaltungsformaten als Seminaren eingesetzt werden, allerdings darf die Gruppe nicht zu groß sein, da die Lehrperson mit allen Studierenden jeweils ein Einzelgespräch führen muss. Hinsichtlich des Leistungsnachweises ist die Methode des gemeinschaftlichen Beurteilens flexibel, es kann auch eine andere Form als die des Vortrags gewählt werden.