Selbstreflexives Studieren. Erstsemestertutorium zur Entwicklung von Studierfähigkeit
Kurzinfos_ZiLL_20-2014_Selbstreflexives Studieren
Aus der Reihe: Schriften zur Hochschuldidaktik. Beiträge und Empfehlungen des Fortbildungszentrums Hochschullehre der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.
Marko Heyner, Universität Hamburg
Quelle
Heyner, M. (2014). Erstsemestertutorium Selbstreflexives Studieren. In: Universitätskolleg (Hrsg.): Tutoring und Mentoring an der Universität Hamburg. Universitätskolleg-Schriften Band 5. (Abrufbar unter: https://www.universitätskolleg.de/publikationen/schriftenreihe.html)
Problembeschreibung / Zieldefinition
Studierende verfügen mit Eintritt in die Hochschule über umfangreiche schulische und berufliche Lernerfahrungen, haben aber wenig konkrete Vorstellungen von dem, was unter den Begriffen des akademischen Lernens und der Bildung durch Wissenschaft von ihnen erwartet wird.
Das Erstsemestertutorium Selbstreflexives Studieren an der Universität Hamburg verfolgt das Ziel, die Studierfähigkeit für Studierende des Lehramtes, der Bildungs- und Erziehungswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre zu entwickeln. Selbstreflexiv zu studieren bedeutet, sich mit seinen Interessen auseinanderzusetzen, eigene Lernziele und -wege zu entwickeln, Vorwissen und Entwicklungspotenziale zu berücksichtigen und Lernerträge realistisch einzuschätzen (siehe Abbildung 1). Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit, eigene Lernprozesse wahrzunehmen, zu bewerten und absichtsvoll zu steuern, um dadurch eine autonome Studierpersönlichkeit zu entwickeln, die lebenslang Fragestellungen mit wissenschaftlichen Methoden bearbeiten kann.
Langfristig soll mit dem Tutorium die Zahl erfolgreicher Abschlüsse sowie die Studienzufriedenheit erhöht und ein Studium entlang klassischer Bildungsidealegefördert werden.
Herangehensweise / Lösungsansatz
Erstsemesterstudierende knüpfen während der Orientierungswoche Anfang Oktober Kontakt zu studentischen TutorInnen. Diese sind für ihre Aufgabe geschult, motiviert und selbst studienerfahren. Die Schulung erfolgt in Kooperation mit dem Hamburger Tutorienprogramm (HTP) und beeinhaltet eine Online-Lerneinheit, zwei Tage vorbereitendes Training und begleitende Workshops und (Peer-)Supervisionsanteile. Unter Fortführung des Vertrauensverhältnisses der Orientierungswoche organisieren die TutorInnen im Verlauf des ersten Studiensemesters (siehe Abbildung 2) abwechslungsreiche und auf die aktuelle Studiensituation bezogene Einzel- (gelb) und Gruppenveranstaltungen wie Kick-off, Muddling-through und Wrap-up (rot) und leiten Selbstlernprozesse (grün) durch fortgeschrittene Studierende auf Augenhöhe, für ihre ca. 12 betreuten Erstsemesterstudierenden an. Relevante Themen sind beispielsweise Lernstrategien, Zeitmanagement, Motivation, Aufschiebeverhalten, Lerngruppen und Prüfungen, diese werden einzeln und im Gruppenrahmen bearbeitet und diskutiert.
Persönliches Feedback ist der Schlüssel zur Reflexion eigenen Studierens, steht aber gerade in großen Grundlagenveranstaltungen kaum ausreichend zur Verfügung. TutorInnen nehmen sich in mindestens drei über das Semester verteilten leitfadengestützten, einstündigen Lerndialogen Zeit, das Studieren zu analysieren, gemeinsam Entwicklungswege zu formulieren und den Fortschritt im Verlauf des Semesters zu diskutieren. Diese Beratung versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe, denn sie stärkt das Vertrauen der Studierenden in ihre eigene Handlungsfähigkeit und Wahlfreiheit.
Auf Grundlage von Freiwilligkeit, einem kalkulierbaren eigenen Engagement von zwei Stunden wöchentlich und den individuellen Bedarfen entwickelt sich die Studierfähigkeit der Erstsemester. Dieser Prozess wird in einem Portfolio dokumentiert, reflektiert und dadurch in seiner Wirkung weiter verstärkt. Bei positiven Erfahrungen und Interesse können Studierende nach erfolgter Schulung im kommenden Herbst selbst die Aufgabe als TutorIn übernehmen.
Aufwand
Organisatorische Herausforderungen einer nachhaltigen flächendeckenden Gestaltung sind Fragen nach geeigneten TutorInnen in ausreichender Zahl, deren Schulung sowie verfügbare Räume für Gruppenveranstaltungen sowie die notwendigen finanziellen Ressourcen. Eine Kreditpunktevergabe ist weder für Teilnehmende noch für TutorInnen vorgesehen.
Art der Evaluation, Erfolgsfaktoren und Resultate
Die Evaluation erfolgt über Befragung der Teilnehmenden und Tutorierenden (Fragebögen, Interviews), Auswertung der Portfolios sowie der Online-Aktivitäten. Aufgrund der vorliegenden Informationen von zwei Durchgängen lässt sich feststellen, dass trotz anfänglich hoher Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft die verbindliche Aktivität im Semesterverlauf sinkt und nur etwa die Hälfte der Studierenden bis zum Ende „durchhält“. Diese berichten dann aber sehr positiv über die erlebten Entwicklungen. Der „Teilnehmerschwund“ wird einerseits der Freiwilligkeit und fehlenden Kreditierung zugeschrieben, andererseits der Beanspruchung durch das Fachstudium. Entgegen dem vergleichsweise offenen und individualisierbaren Ansatz des Tutoriums wünschen sich TeilnehmerInnen und TutorInnen eine stärkere Strukturierung, Verbindlichkeit und Fokussierung auf leistungsförderlichen Kompetenzerwerb.
Empfehlungen
Der hohen Anzahl der StudienanfängerInnen und der Unterschiedlichkeit in den Fakultäten und Studiengängen kann durch dezentrale Lösungen vor Ort Rechnung getragen werden. Da nur einem Teil der Studierenden das Angebot gemacht werden kann, ist zu prüfen, welche Zielgruppe mit welcher Programmausrichtung erreicht werden kann und wie Synergien mit anderen Angeboten genutzt werden können. Freiwilligkeit und fehlende Anrechenbarkeit bergen die Gefahr, dass das Tutorium Rationalisierungsentscheidungen der Studierenden zum Opfer fällt. Eine Verankerung in der Hochschulstruktur und im Curriculum ist daher anzustreben. Insgesamt sind Fähigkeit und Bereitschaft der Studierenden, sich auf selbstreflexive Prozesse bezüglich des eigenen Studierverhaltens einzulassen begrenzt und werden erst nach längerer Zeit sichtbar, möglicherweise ist daher eine Ausweitung auf das erste Studienjahr erforderlich.
Verallgemeinerbarkeit
Das Programm in seiner Grundstruktur mit Einzel-, Gruppen-, Selbstlern- und virtuellen Bestandteilen kann auf andere Fächer und Hochschulsituationen übertragen werden. Eine ausführliche Analyse der Bedarfe vor Ort und eine Anpassung und kontinuierliche Weiterentwicklung des Programmablaufes gewährleisten die notwendige Akzeptanz und Wirkung.